Brüder-Grimm-Preis 2009

 

Laudatio auf "Ein Warngedicht" von Tamer Yigit und Branka Prlic

von Thomas Irmer, Anne Peter und Patrick Wildermann

Aus den insgesamt 112 Einreichungen zum Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ergibt sich natürlich auch so etwas wie ein großflächiges Gesamtbild, in dem Tendenzen und Themen der letzten Jahre ablesbar sind. Und dieses Gesamtbild ist, in dem darin erkennbaren, zu begrüßenden Problembewusstsein des Theaters im Hinblick auf die Gesellschaft, durchaus beunruhigend.

In vielen Stücktexten und Inszenierungen geht es um Ausgrenzung, Vernachlässigung, Verwahrlosung, Entsolidarisierung – Erscheinungen des sozialen Abstiegs und nicht zuletzt immer wieder um verbale und physische Gewalt, teils unreflektiert, andererseits schon wie die Waffe im Anschlag. Das für Kinder und Jugendliche entscheidende Feld von Familie und Schule erscheint als hochgefährdet, die Folgeentwicklung zwischen Absturz und Absicherung immer weniger absehbar und absicherbar. Neben der Spiegelung der Verhältnisse mit dem Theater sind diese Stücke und Inszenierungen eben auch Warnsignale. An wen? Vor was?

Das zu ergründen, dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, ja sogar zwingende Wege. Es steht außer Frage, dass diese Arbeiten, die mit den Problemen des jungen Publikums umgehen, dessen Stimmen und Stimmungen aufgreifen, sich zugleich auch nach außen richten, an die sozusagen erwachsene Gesellschaft. Das ist einerseits paradox, denn das Theater für junge Zuschauer richtet sich an seine jungen Zuschauer und nicht in erster Linie an die erwachsene Gesellschaft zur Aufklärung über die Probleme der Kinder und Jugendlichen, die natürlich ihre Welt in Nöten auch mit dem Theater zum Ausdruck gebracht sehen möchten. Andererseits könnte es hierbei um ein Theater gehen, das zwischen den Generationen, zwischen dem erwachsenen Außenblick und dem spezifischen Innenblick der jungen Zuschauer nicht von vornherein unterscheiden muss und diese beiden bestenfalls nebeneinander stehen lässt.

Mit diesem weitgefassten Begriff davon, was Kinder- und Jugendtheater sein kann – gerade wenn man es nicht nur als für Kinder und Jugendliche gemacht denkt – hatten wir für unsere Arbeit an dem uns selbst beunruhigenden Gesamtbild eine Voraussetzung geschaffen, um auf das Einzelne, Besondere jeder Einreichung eingehen zu können. Besonders beunruhigend war dabei außerdem, dass das Romantische, rein Spielerische des Theaters die Ausnahme und auffällige Gegenposition zum Theater des sozial Aktuellen blieb. Dieses ist, so verstehen wir es, natürlich keine Gegenposition, sondern der freie Hinterkopf des sozial harten, vor allem aber direkten und beharrlich paradoxen Theaters, das sich neue Formen sucht, um in jeder Hinsicht mit Theater-Spielen zu warnen und zu klären, ohne endgültige Erklärung.

 

Warum haben wir uns für das "Warngedicht" von Tamer Yigit und Branka Prlic entschieden? Es ist gewissermaßen eine Bauchentscheidung, und zwar in einem ziemlich wörtlichen Sinne. Denn diese Kunst ist so etwas wie ein Schlag in die Magengrube – ein Theater, das unmittelbar körperlich wirkt.

Zu Beginn der Aufführung sitzt man in einem Raum aus Lärm. Auf der Videoleinwand rappen sie aus einem abgewrackten Kellerraum über soziale Kluften, vom Versagen der Politik, vom Leben im Dreck, vom Abgestempelt-Sein und davon, wie die "Unterschicht untergeht, Oberschicht überlebt". Der Text formuliert eine denkbar deutliche Anklage gesellschaftlicher Missstände. Währenddessen erfassen die Beats die Körper der Zuschauer, man spürt die Musik von den Füßen bis in den Brustkorb. Dieses Theater drängt sich einem auf, es ist laut und wütend.

Das „Warngedicht" will beim Wort genommen werden. Es warnt. Vor dem Ungenügen der Gegenwart,  das die Katastrophe der Zukunft ist. Es ist ein Weckruf. „Ich setzte meine rote Jagdmütze auf, mit dem Schild nach hinten, so wie ich es am liebsten hatte, und schrie so laut ich konnte: Schlaft gut, ihr Idioten!". So klang das bei jenem berühmten Schulabbrecher J. D. Salingers namens Holden Caulfield, mit dem sich noch immer alle Heranwachsenden verwandt fühlen können, die ihren Platz in der Welt nicht gefunden haben.

 

Der Abend ist ein Aufschrei, und für diesen Aufschrei findet er eine spezifische Form.

Die Videoclip-Ästhetik ist dabei nicht bloß coole Jugendoberfläche, die man benutzt, um sich an eine Zielgruppe anzubiedern. Sie prägt das gesamte Stück, nicht nur indem immer wieder Videosequenzen eingespielt, und Songs performt werden – mit einer enormen Könnerschaft und Energie übrigens.

Der Abend ist Jamsession und Rap-Battle. Seine Ästhetik erwächst gleichsam kongenial aus der Realität, von der hier erzählt, gesungen, getanzt wird. Und dabei behauptet sich der virtuose Sprechgesang und seine verschiedenen verschachtelten Reimformen einmal mehr als Kunstform. Hier wird aus der Sprache, wie sie auf den Straßen Berlins zu hören ist, ein wildes, zorniges Großstadt-Poem.

"Meine Sprache ist viel härter geworden als früher", heißt es darin einmal. Härter geworden z.B. weil "ich mir die ganze Zeit anhören [muss], wie scheiße mein Leben ist und was für Arschloch Freunde ich habe".

"Unsere Kunst", so heißt es an anderer Stelle, "klebt am Fleisch der Straße". Die hart gewordene Sprache wird von der Straße bestimmt, sie kommt von der Welt nicht los, kommt nicht los vom schmutzigen Boden der Realität, weil die Verhältnisse eben nicht so sind, dass man sich einfach über sie hinwegsetzen könnte.

Die Wut, das Überforderungs-Gefühl, die Abwertungs-Angst, sie wird hier nicht einfach vermeintlich authentisch von den Betroffenen herausgeschrieen, sondern ihr wird Form gegeben. Aus Flüchen werden Metaphern, poetische Bilder, die jener Straßen-Sprache einen doppelten Boden verleihen.

 

Zu Anfang werden im Video Fingernägel über eine Schultafel gekratzt. Immer wieder ertönt zu Techno-Beats, die sich buchstäblich ins Hirn bohren, der Satz "I got something for your mind" – der Schulalltag erscheint als Gehirnwäsche, mit "Kopftherapie" sind diese Szenen an der Wand überschrieben.

Die Inszenierung versetzt sich in jene hinein, die von außen, aus der Lehrer- oder Politiker-Perspektive oft bloß als Störenfriede erscheinen, als Jugendliche, an die man nicht mehr herankommt. Hier sprechen die, über deren Köpfe zurzeit gern in zwangsläufig pauschalisierenden Statistiken hinweggegangen wird. Hier kommen die zu Wort, die man sonst meist schon abgeschrieben hat.

Die vier Spieler deklinieren zu Beginn unregelmäßige englische Verben bis zur Erschöpfung, schreien sie immer lauter heraus. Es sind die Verben "lesen, denken, schreiben, vergessen", die sie durchdeklinieren – womit sie auch den Kreislauf einer fehlgehenden Bildung beschreiben, die nicht in den Köpfen stecken bleibt, sondern zum sprichwörtlichen einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgeht.

 „Hallo Herr Lehrer, hey, Sie müssen mir eine andere Note geben, eine bessere, ich krieg noch Ärger, ja, kommen Sie, ich habe nur SECHSEN! Geben Sie mir doch einfach eine EINS, oder, eine EINS, ich bleibe noch sitzen, ja!" So klingt es in diesem „Warngedicht", wenn ein Schüler einen aussichtslosen Kampf kämpft. Verzweifelt komisch.

Es ist Tony, der da spricht, er hat sich benannt nach Tony Montana, Al Pacinos Figur eines kubanischen Einwanderers, der in dem Film „Scarface" zum Drogenbaron aufsteigt. Tony verkörpert die Sehnsucht nach einer neuen, anderen Identität, nach dem Verschwinden hinter einer heldenhaften Fiktion, die nicht den Ausmusterungsstempel Hauptschüler trägt. Tony war noch nicht im Knast, „ein Glück", findet er, aber hinter seinem durchsichtigen Spiel mit dem Gangstermachismo steht ja auch gar nicht die kriminelle Karriereabsicht –  sondern es ist letztlich auch nur eine verquere Folge des überall tönenden neoliberalen Befehls: Sei du selbst! Sei kreativ dabei, dich selbst zu erfinden! Der Junge hat verstanden, was jeder Jugendliche irgendwann, ob bewusst oder instinktiv, begreift: dass in unserer Gesellschaft nur Erfolgsgeschichten zählen. Und mancher muss sich die Vorbilder für den Aufstieg eben dort suchen, wo kein Schulabschluss vonnöten ist. Hauptsache: erst einmal oben sein. Der tragische Fall aus großer Höhe ist gestattet, aber nicht das  Versinken im grauen Bodensatz.

Tony wird keine Eins bekommen, soviel ist sicher. ‚Sehr gut' oder ‚Ungenügend' – das sind ja nicht bloß Noten, die über die Versetzung entscheiden, sondern Urteile, die das Selbstwertgefühl bestimmen. Die abwesenden Lehrer, gegen die im „Warngedicht" so wütend, rotzig und mit bitterem Humor angerannt wird, sie urteilen nicht aus objektiver Perspektive, wie könnten sie auch.

Die Schüler, von denen das Stück erzählt, sie haben die völlige Perspektivlosigkeit längst verinnerlicht. Es ist eine der großen Leistungen dieser Inszenierung, dass sie ein Gefühl dafür vermittelt, was es bedeutet, eine Baumschule zu besuchen, wie es im Trotz-Jargon der Jugendlichen heißt, in dem Bewusstsein, später keine produktive Funktion zu haben, außer vielleicht für den Obst- und Gemüsehandel.

 

"Du hast ja deine Heimat", wird auf die Wand projiziert, "hast es dir darin gemütlich gemacht / Wir stehen vor dem Wort Migration." Auf der einen Seite also die, die eine Heimat haben, auf der anderen die, die vor einem Wort wie vor einer Wand stehen, durch die sie nicht durchdringen. "Wie lange noch?" fragt der Text. Wie lange noch wird es eine Rolle spielen, dass die Eltern oder Großeltern nicht in Deutschland geboren sind? Wie lange noch werde ich gefragt werden, wo ich denn "ursprünglich" herkomme?

Der Fakt "Migrationshintergrund" steht für diese Jugendlichen im Vordergrund als eine immer und immer wieder zu überwindende Mauer. Doch ist er nicht die einzige Wand, gegen die sie anrennen. "Der mit der Wand tanzt", heißt es über den Musterschüler Talu, der seiner Mutter nicht begreiflich machen kann, warum er für die Geburtstagsparty eines Freundes übers Wochenende weg fahren möchte. Und wenn Knut Almila seine Liebe gesteht, lässt sie ihn abblitzen – auch das sind solche Wände.

Tamer Yigit und Branka Prlic, die Matthias Lilienthal und Shermin Langhoff für das Theater entdeckt haben, haben ihr Stück mit vier Jugendlichen für das Hebbel am Ufer erarbeitet, mit Almila BagrIaçIk, Ömer TarakcI, Talu Emre Tüntas, Haydar YIlmaz. Aber wer glaubt, hier ginge es ausschließlich um migrantischen Hintergrund oder deutschen Vordergrund, oder gar um das, was die Menschen, die ebenfalls ein Problem mit der Perspektive haben, Integration nennen, der irrt. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, vor die Wand zu rennen und zu reden, kennen Schüler jeder Herkunft und jeder Schulform überall auf der Welt. Die Mauern gleichen sich. Und wer einmal zu oft mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen ist, der hat irgendwann auch nur noch die Wand im Kopf.

„Wir machen hier keine türkische Gang-HipHop- und auch keine Opferscheiße", hat Tamer Yigit über sein Stück gesagt, „es geht nicht um Gewalt, sondern um Poesie". Besser, präziser kann man es gar nicht ausdrücken. „Ein Warngedicht" vibriert vor Wut, Energie, Lebenslust und poetischer Kraft, aber von Selbstmitleid keine Spur. Wer wirklich Opfer ist, wer den Schaden hat, wer als Verlierer aus dieser sogenannten Bildungsmisere hervorgehen wird, das ist und bleibt die große Frage: Die Jugendlichen, die in die Chancenlosigkeit entlassen werden, oder eine Gesellschaft, die sich ihre Ideen und Begabungen entgehen lässt? Das Aufstiegsversprechen für alle existiert ja weiterhin. Was es wert ist, steht auf einem anderen Blatt.

Mit dem Klischee des Selfmade-Traums lassen die Theatermacher auf der Bühne genau so offensiv spielen wie mit der längst zum Label erstarrten Outlaw-Pose. Es gibt im „Warngedicht" die Figur des Gymnasiasten Talu, der sich beklagt, dass die „Kanaken alle ein richtig schlechtes Deutsch sprechen", und der über seine Mitschüler sinniert: „Ich kann die meisten Jugendlichen nicht verstehen. Warum nutzen sie ihre Chancen nicht, die sie hier haben? Sie müssten sich doch nur ein bisschen anstrengen, aber sie sind zu faul". Welche Anstrengungen und Brüche sich dabei auch hinter Talus Lebensentwurf der Übersollerfüllung verbergen, der sich im Spannungsfeld aus Fremdzuschreibung und Selbstsuche behaupten muss, verschweigt der Text nicht, ohne es aussprechen zu müssen.

 

Tony, Knut, Talu und Ali. Die Jugendlichen stehen hier nicht einfach für sich, wie manchmal im Dokumentartheater, wo die Bühne den Alltags-Experten gehört. Sie streifen eine Rolle über, schlüpfen in die Figur des Kriegers, der nur kämpfend durch seinen Alltag kommt. Der Krieger ist eine Kunstfigur – der Kampf ist echt.

Tamer Yigit und Branka Prlic haben an Schulen in Kreuzberg, Neukölln, Lichtenberg recherchiert. Sie haben den Schülern zugehört, haben Erinnerungen an die eigene Schulzeit ebenso zum Material genommen wie das, was sie auf Schulhöfen von ihnen erfahren haben. Sie bringen die Sprache ihres Alltags auf die Bühne, ihre Probleme, für die zu wenige ein Ohr haben. Der Brüder Grimm Preis soll an ein Stück verliehen werden, das sich mit der Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen auseinander setzt und auf ein tolerantes Miteinander hinwirkt.

Berlin ist in diesem Warngedicht ein Kampfplatz, auf dem sich die verschiedenen sozialen Schichten, vermeintlich markiert durch ihre Hautfarbe, als Gegenspieler begegnen, in einer Welt, die von Geld regiert wird: "An jeder Ecke ein Krieger, für einen Kampf, den sie schon längst verloren haben, Gier und Neid, alles haben, nichts tun". Am Ende steht das Bild eines sinnlos beendeten Lebens, sei es nun das von anderen, auf die man wahllos Kugeln abfeuert oder das eigene: vielleicht eine Kugel "in meinen Kopf, mitten in Berlin auf dem Boden liegt mein lebloser Körper." Mit diesem Satz endet der Abend, mit einer letzten Warnung. Der Brüder Grimm Preis 2009 geht an das "Warngedicht".

 

Berlin, 15. November 2009

Thomas Irmer, Anne Peter und Patrick Wildermann